Johannes-Wilhelm Rörig zog gemeinsam mit Matthias Katsch, Philosoph und Sprecher der Betroffeneninitiative Eckiger Tisch e.V., der den sogenannten „Missbrauchsskandal“ am Berliner Canisius-Kolleg vor zehn Jahren maßgeblich ins Rollen brachte, und mit Silke Noack, Sozialpädagogin und Leiterin des bundesweiten „Hilfetelefon Sexueller Missbrauch“, eine kritische Bilanz der bisherigen Anstrengungen gegen Missbrauch in Deutschland.
Rörig: „[…] Ich bin immer wieder erschrocken darüber, mit welcher Gelassenheit sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche von Teilen der Gesellschaft hingenommen wird. Tausende Kinder werden jährlich Opfer von sexuellem Missbrauch, sexuellem Mobbing, Cybergrooming oder Kinderpornografie. Missbrauchsabbildungen durchfluten mittlerweile in Terrabyte-Dimensionen das Netz. Wir brauchen klare Ziele, verbindliche Maßnahmen und ausreichend Geld, um Missbrauch aufzudecken und Kinder endlich besser zu schützen.“ […] „Sexuelle Gewalt kann nur dann wirkungsvoll bekämpft werden, wenn sich alle gesellschaftlichen Kräfte verbünden, um sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche den Kampf anzusagen. Wir brauchen für Deutschland einen Pakt gegen Missbrauch. Einen Pakt für ein gemeinsames großes Ziel: Maximale Reduzierung der Zahl der Fälle von sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen“, so Rörig. „Dieser Pakt braucht die uneingeschränkte Unterstützung von allen Bürgerinnen und Bürgern, von Bund, Ländern und Kommunen, den politischen Parteien, der Zivilgesellschaft wie Kirchen, Wohlfahrt, Sport, aber auch des Gesundheitswesens oder der Internetwirtschaft, die alle auf dieses Ziel hinarbeiten.“ Der neue Nationale Rat, das von Bundesministerin Dr. Giffey und Rörig im Dezember 2019 einberufene Spitzengremium aus Politik, Zivilgesellschaft, Wissenschaft, Praxis und Betroffenen, dem auch DOSB-Präsident Alfons Hörmann angehört, biete eine starke Plattform für diesen Pakt.
Rörig wiederholte seine Forderungen nach
- einer programmatischen Verantwortung der politischen Parteien,
- Stärkung von Beratungs- und Ermittlungsstrukturen und
- Ausbau von Prävention und Sensibilisierung der Öffentlichkeit.
„Ich erwarte eine deutlichere Haltung der Politik. Für mich gehören klare Forderungen, Vorgaben und finanzielle Untermauerung in jedes Parteiprogramm und in jeden Koalitionsvertrag, auf Bundes- und auf Länderebene“, so Rörig. […] Um die Erreichung der Ziele messbar zu machen, brauche es zudem eine regelmäßige Prävalenz- und Wirkungsforschung. „Wir müssen noch viel genauer wissen, wie viele Kinder betroffen sind und welche Wirkung Maßnahmen der Prävention konkret entfalten“, so Rörig. Er hoffe sehr, dass im Rahmen des Nationalen Rates bald eine nationale Forschungsstrategie entwickelt werde.
Matthias Katsch, Betroffeneninitiative Eckiger Tisch e.V., bilanzierte: „Auch zehn Jahre nach der Aufdeckung sexueller Gewalt in zahlreichen Bildungseinrichtungen und einer verstärkten Debatte über Missbrauch von Kindern im Kontext ihrer Familie wird sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche noch immer nicht als zentrale gesellschaftliche Herausforderung für unser Land angenommen. Beide Kirchen haben in den vergangenen Jahren Aufklärung und Aufarbeitung über den Umgang ihrer Institutionen mit Verbrechen ihrer Mitarbeitenden vielfach verschleppt. Erst jetzt beginnen sie, sich ihrer Verantwortung zu stellen und machen sich an unabhängige und umfassende Aufarbeitungsprozesse. Immer noch werden die Opfer eher stigmatisiert, als dass ihnen notwendige Hilfe und Unterstützung angeboten wird. Das Bewusstsein für die „Normalität“ von sexuellem Kindesmissbrauch in unserer Gesellschaft ist zwar – vor allem durch die Hartnäckigkeit von Betroffenen und ihre neugewonnenen Unterstützer*Innen – gestiegen, aber wir sind institutionell wie als Gesellschaft noch weit davon entfernt, diese Gewaltform in der kommenden Generation zu überwinden.“
Mehr Aufklärung und Sensibilisierung
Abschließend forderte Rörig eine breit angelegte Aufklärungs- und Sensibilisierungskampagne. Es sei wichtig, dass offen über das Thema gesprochen werde und Alle Bescheid wüssten. Betroffene berichteten immer wieder, wie häufig vor allem das nahe Umfeld versagt habe, weil Mitwissende weggesehen und nicht geholfen hätten. „Taten verhindern heißt auch, Anbahnungsprozesse von Tätern und Täterinnen und Signale von Kindern überhaupt wahrnehmen zu können.“ Leider habe er bis heute keine Gelder, um eine solche Kampagne umzusetzen.
Mit dem neuen Spot „Anrufen hilft!“ möchte Rörig auf das bundesweite Angebot des „Hilfetelefon Sexueller Missbrauch“ (0800 22 55 530) hinweisen und Menschen aktivieren, dort anzurufen, wenn sie sich Sorgen um ein Kind machen. Silke Noack, Leiterin „Hilfetelefon Sexueller Miss-brauch“: „Es ist wichtig, dass Menschen aufmerksam werden und sich trauen hinzuschauen, damit sexuelle Gewalt an Kindern aufgedeckt und schneller beendet wird. Viele Menschen aus dem Umfeld von Kindern haben ein komisches Gefühl, wissen aber nicht, was sie machen sollen. Wir bieten Menschen Rat und Unterstützung, die einem Kind helfen wollen oder selbst von sexuellem Missbrauch betroffen sind.“ Am Hilfetelefon arbeiten mehr als 20 psychologisch und/oder pädagogisch ausgebildete Fachkräfte mit jahrelanger Erfahrung in der Beratung und Begleitung bei sexuellem Kindesmissbrauch. Seit Beginn des Hilfetelefons 2010 wurden mehr als 43.000 Beratungsgespräche geführt. Die Beratung erfolgt bundesweit, kostenfrei und anonym.
Den Spot „Anrufen hilft!“, bei dem Regisseurin Caroline Link (u. a. „Nirgendwo in Afrika“, „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“) pro bono Regie führte, stellte sie heute persönlich in Berlin vor: „Zu erfahren, wie viele Kinder und Jugendliche in unserer Gesellschaft unter sexuellem Missbrauch leiden, hat mich überrascht und schockiert. Wenn es uns mit dem Spot gelingt, Kindern in dieser beklemmenden Lebenssituation zu helfen, wäre ich sehr froh. Kinder sollen Kinder sein dürfen. Ihre körperliche und seelische Unversehrtheit ist mir ein großes Anliegen.“
Der Spot wird ab sofort auf zahlreichen TV-Sendern, in Kinos, auf Social Media und auf der gleichnamigen Website zum Spot www.anrufen-hilft.de sichtbar sein. Umgesetzt wurde er von der Claussen + Putz Filmproduktion GmbH und der Agentur ressourcenmangel.
(Quelle: Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs)